MONTAG, 19. DEZEMBER

Der Führer in Halle, Magdeburg und Hamburg
Hitler sagt am Sonnabendabend: 1932 sei die NSDAP
emporgerückt zur »ausschlaggebenden Bewegung Deutschlands«
Sie habe ein Anrecht auf die Führung

Der Angriff

Kein Reichstag vor Weihnachten

Mehrheit im Reichsrat für Amnestie
Vossische Zeitung

Das muss man sich mal vorstellen: 287 Kilometer, vom Lehrter Bahnhof in Berlin bis zum Hamburger Hauptbahnhof, in nur 2 Stundenund 22 Minuten! Um 8 Uhr ist der neue DR 877 der Reichsbahn in Berlin zur Probefahrt losgefahren, um 10.22 Uhr hat er sein Ziel erreicht. Das bedeutet einen neuen Geschwindigkeitsrekord auf der Schiene: bis zu 160 Kilometer pro Stunde! Möglich machen es die Dieselmotoren mit zweimal 420 PS in Verbindung mit einem Gleichstrom-Generator und den elektrischen Tatzlager-Fahrmotoren. 

Der cremefarben-violett lackierte Schnell-Triebwagen ist zudem im Windkanal optimiert worden, seine Frontpartie stark heruntergezogen. In den zwei Großraumabteilen finden 98 Passagiere Platz, weitere vier im »Erfrischungsraum.
Zwar nennt ihn der Volksmund den »Fliegenden Hamburger«, doch der DR 877 kann nicht durchgehend so rasen. Die Strecke ist für ein solches Tempo nicht ausgelegt. So mussten schon jetzt alle Signalan- lagen versetzt werden: Der »Motor-Blitzzug", wie ihn die Presse tauft, benötigt sehr viel länger als alle anderen Züge, um nach einer Vollbremsung zum Halt zu kommen.


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In der sowjetischen Botschaft in Berlin mögen Agenten ein und aus gehen, die die Kommunisten an die Macht bringen wollen. Aber auf höchster Ebene gehen die Staatsführer höchst zivilisiert miteinander
um-man lotet gemeinsame Interessen aus. Kurt von Schleicher empfängt Maxim Maximowitsch Litwinow, Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten. Dieser ist so etwas wie der Außenminister der Sowjetunion und strebt engere Kontakte zum Westen an. Da passt es gut, dass Schleicher einen neuen Kurs gegenüber der Regierung in Moskau einschlägt. 

Papen hatte nicht nur die Kommunisten in Deutschland bekämpft, sondern auch in der Sowjetunion einen künftigen Gegner ausgemacht. Schleicher ist wie stets pragmatischer. Momentan könnte er Hilfe aus Sowjetrussland gut gebrauchen, um die deutsche Wirtschaft anzukurbeln, ein Handelsvertrag wäre sinnvoll. Allerdings spielt das Parlament derzeit nicht mit. 
Dies alles weiß Litwinow natürlich. Ihn dürfte aber freuen, dass Schleicher wieder mal einen Kniff auf Lager hat. Er lasse prüfen, ob er einen Handelsvertrag auch ohne Zustimmung des Reichstags umsetzen könne, erzählt der Kanzler.

Vor der Zentrale der Aschinger-Gesellschaft kommt es zu einer Demonstration. Aschinger ist Deutschlands größtes Gastronomieunternehmen, mit fast dreißig Lokalen und Stehbierhallen in Berlin, dazu Bäckereien und Hotels. Eine Institution. In »Berlin Alexanderplatz« hat Alfred Döblin eine Filiale ausführlich beschrieben, Erich Kästner lässt in »Fabian« hier seinen Helden einkehren.
Bei Aschinger gibt es billiges Essen und günstiges Bier. Doch nun stehen zwanzig Jugendliche vor der Tür, die Essen und Trinken umsonst haben wollen. 

Die Direktoren von Aschinger empfangen eine Abordnung zum Gespräch. Für jeden von ihnen verlangen die Jugendlichen ein Laib Brot, ein Pfund Schmalz und eine Wurst. Die Geschäftsführung antwortet: Die Demonstranten sollten ihre Forderungen doch bitte schriftlich einreichen. Danach werde man sich entscheiden, ob geholfen werden könne. Die Vertrauensleute reagieren


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empört. Einer droht den Anwesenden mit Gewalt. Dann ziehen alle abzum Alexanderplatz.
Dort liegt die Filiale, die Döblin beschrieben hat. Dort fordern sie vom Geschäftsführer ein Mittagessen für jeden Teilnehmer des Hungerzugs. Hsb Tut uns leid, heißt es nur. Ohne Bescheinigung der Zentrale kann kein Gratisessen ausgegeben werden. Einer der Teilnehmer hält eine spontane Rede vor den Restaurantgästen. Er spricht über die bitteren Gefühle der Hungernden, die zusehen müssen, wie andere sich vor ihren Augen satt essen. 

Es hilft nichts. Die Jugendlichen ziehen weiter, nirgendwo erhalten sie etwas zu essen. Schließlich brechen sie in ein Lebensmittelgeschäft ein, in der Alten Schönhauser Straße in Mitte. Dann zerstreuen sie sich. Die Polizei nimmt Ermittlungen auf. Ihr Verdacht: Kommunisten haben den Hungermarsch geplant, um Unruhe zu stiften.

Frau Löwenstein ist die bezauberndste Frau, die er bislang in Deutschland getroffen hat. Man setzt sich in ihrer Wohnung an den reich verzierten Ofen, es wird sofort gemütlich. Abraham Plotkin ist wie ge-
bannt. Diese Wärme und diesen Charme wird er für eine lange Zeit nicht vergessen, da ist er sich sicher. Allerdings ist er ja wegen Herrn Dr. Löwenstein hier, dem Direktor des Gesundheitsamts in Berlin-Lichtenberg. Plotkin sammelt sich. Er erzählt, was er im Wedding gesehen hat, der Hunger, die Krankheiten, was macht das mit den Menschen, Herrn Doktor? 

Löwenstein ist Ende dreißig, hat zurückweichendes Haar und etwas eingefallene Wangen. Ein dünner Mann, seine Augen sind ein-
nehmend. Groß und dunkel und wach. Löwenstein spricht eine Stunde lang. Am Ende hält Plotkin deprimiert in seinem Tagebuch fest: »Fakt auf Fakt, Analyse auf Analyse, türmten sich auf zu einer Erzählung des körperlichen und geistigen Verfalls einer Nation.«
Ansteckende Krankheiten breiten sich in Deutschland aus. Die öf-


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fentlichen Bäder haben zwei Drittel ihrer Kundschaft verloren, weil sich die Leute die paar Pfennige für ein Bad nicht mehr leisten können. Und die Menschen trinken viel mehr Alkohol, sie trinken, um zu vergessen. Eine Million Abtreibungen gibt es pro Jahr. Und dreißigtausend Frauen sterben dabei unter den Händen von Pfuschern.
Eine scheinbar banale Frage treibt Plotkin schon lange um. Er fragte sich das bei der Demonstration am Reichstag, bei der er fast von den Polizisten zusammengeschlagen wurde. Er fragte sich das bei seinen
Spaziergängen durch die Stadt. »Warum sind so viele Menschen auf der Straße?« Das wundere ihn.
»Wundern Sie sich nicht«, sagt der Doktor. »
Die Massen sind nicht auf der Straße, weil sie so gern herumlaufen. Die meisten von ihnen, vor allem die Leute ohne Familie, haben kein Geld für Licht oder
Kohle. Es ist auf der Straße angenehmer als in ihren erbärmlich kalten, finsteren Zimmern.»
Plotkin fühlt sich nach dem Vortrag erschöpft. Ein Albtraum! 

Ihm wird klar, dass er im Wedding nur die Oberfläche gesehen hat, die Beulen, nicht den Krebs, der tief drinnen versteckt ist. Löwenstein ahnt wohl, wie es dem Besucher aus Amerika ergeht. Er sagt: »Ich rede zu Ihnen als Mann der Medizin, nicht als Propagan- da-Mann. Die erste Epidemie, die kommt, wird weite Teile der Bevölkerung davonfegen.» Und dann?, fragt Plotkin. Kommt dann der Kommunismus? »Unmöglich, das bedeutete Krieg. 

Hitler hat 40 Prozent seiner Anhänger verloren. Am wahrscheinlichsten die Monarchie, nach harten, erbitter- ten Kämpfen.« Löwenstein zeigt erstmals Emotionen an diesem Nachmittag am wärmenden Ofen. »Und mehr Chaos in Europa. Mehr von den Vorkriegsverhältnissen, von denen viele von uns hofften, dass sie nie mehr wiederkommen, und wer weiß - vielleicht mehr Schlachtfelder, auf denen unsere Jungen sterben. Ich kann zwar hoffen, aber ich sehe keinen Ausweg.»
Der Ältestenrat des Reichstags tritt zusammen munisten erzwungen. Sie fordern, dass noch vor Weihnachten die das haben die Kom


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Abgeordneten im Plenum über die Winterhilfe und einen Misstrau ensantrag gegen das Kabinett Schleicher abstimmen. Die Konsequenz wären bei einem erfolgreichen Misstrauensantrag mal wieder Neuwahlen. Da zuletzt, am 6. November, außer der KPD fast alle Parteien Stimmen verloren haben, will das sonst allerdings niemand. Man vertagt sich.

Reinhold Quaatz, der Politiker der DNVP, schnappt ein neues Gerücht über die Nationalsozialisten auf. Die Bewegung zersetze sich immer weiter. Angeblich meutern gerade acht Standarten der SA in Berlin.
Überall fehlt es an Geld. Meissner hat ihm kürzlich erzählt, die NSDAP habe 14 Millionen Mark Schulden.

Der Unternehmer Wilhelm Keppler, Wirtschaftsberater der NSDAP, meldet sich bei Adolf Hitler: Er sei in Köln mit Hjalmar Schacht, dem Bankier Baron von Schröder und dem ehemaligen Kanzler Franz von Papen zusammengekommen. Papen wünsche eine Aussprache. Ausgerechnet Papen. Den haben die Nationalsozialisten in dessen Kanzlerschaft vehement bekämpft.
Auf Keppler ist Verlass, das weiß Hitler. Im »Keppler-Kreis» hat dieser zahlreiche Unternehmer vereint, die Hitler unterstützen. Und Keppler gehört schon seit 1927 zur Bewegung, Mitgliedsnummer: 62424. Damals waren die Nationalsozialisten noch weit weg von der Macht, bei den Wahlen zählten sie zu den Splitterparteien.

Was Keppler erzählt, klingt spannend. Laut Papen ist Hindenburgs Verhältnis zu Schleicher gestört. Was womöglich auch daran liege, dass Papen Hindenburg berichtet habe, wie er von Schleicher abgesägt worden sei. Der Präsident wiederum vertraue Papen. Wie wäre es also mit einem unverbindlichen Meinungsaustausch? 
Baron Schröder hat sein Haus in Köln dafür schon angeboten. Um 18.45 Uhr kommt der »Ausschuss der Reichsregierung für Arbeitsbeschaffung« zusammen. Schleicher ist dabei, Finanzminister Graf Schwerin von Krosigk, andere Kabinettsmitglieder und natürlich der


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zuständige Kommissar Gereke. Künftig solle das Gremium unter dem Vorsitz von Gereke tagen. Dem Kommissar obliege die Aufgabe, verfügt Schleicher, alles nach Möglichkeit nachdrücklichst zu beschleunigen. Sofern wesentliche grundsätzliche Fragen zu klären seien, werde er jederzeit persönlich zur Verfügung stehen.
Der Kanzler will schnelle Erfolge sehen.

Wohltätigkeitsball für das »Cecilienwerk« im Hotel Esplanade. Zum ersten Mal haben die Veranstalter die Eintrittskarten an jedermann verkauft. Bislang hatte Kronprinzessin Cecilie zu Mecklenburg die Schirmherrschaft übernommen, doch jetzt kommt eine «mehr bunte als vornehme Gesellschaft« zusammen, so beschreibt es Bella Fromm. Das untergegangene Kaiserreich verkörpern die Vertreter des Hauses Hohenzollern: Der Kronprinz, Wilhelm von Preußen, trägt die Uniform seines alten Regiments, der »Ersten Leibhusaren». Dazu gehört eine Fellmütze, auf der ein silberner Totenkopf
prangt, mit gekreuzten Knochen ein Symbol dafür, dass kein Pardon gegeben wird. Das Kommando über ein Regiment der Leibhusaren hatte der Kronprinz 1911 übernommen. Sein Bruder Oskar, der fünfte Sohn des früheren Kaisers, ist ebenfalls erschienen.

Die taumelnde Republik repräsentieren der ehemalige Kanzler Papen und seine Frau sowie Alfred Hugenberg, Vorsitzender der DNVP. Hugenberg wirkt immer so lachhaft, findet Bella Fromm. Stämmig, militärischer Haarschnitt, langer Schnurrbart, kleine Augen hinter Fettwülsten, und erst dieses ständige verächtliche Lächeln!
Das Spotten vergeht ihr indes schon bald. Denn nun erspäht sie Viktoria von Dick, eine Berliner Salondame, die Hitler vergöttert.
Sie bringt einen besonderen Gast mit: Magda Goebbels. Bella Fromms Laune verschlechtert sich sofort. »Es könnte einem den Magen umdrehen, wenn man sieht, wie manche Leute sich erniedrigen, um Magdas Gunst zu erringen.» Am Abend lässt sich Schleichers Ordonnanz bei Bella Fromm mel-


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den. Der Blumenstrauß! Er überbringt ein kurzes Dankschreiben des Kanzlers: »Es war reizend von Ihnen, bitte kommen Sie wieder!» Bella Fromm freut sich, Schleicher hat ihre kleine Geste verstanden. Er weiß, wie sehr sie ihn schätzt. Und sie weiß, wie schwer er es jetzt hat.


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Heute ist es..?

Aloise Ehemann von Eva Braun
Bernd Ehemann von Bea von Orange
 

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It's where they extort the Vatican by Political government extortion for economic bribery, unseen oppression against their own unknown citizens and protecting their self-interest, their fraudulent capitalism activity on a scale never seen before; ´Barbary cannibalistic animal misbehavior´.

All rights reserved not to António Guterres, but to the bribery unseen Barbarian Design of those Nations, that have made it possible that even the Security Council of the United Nations is accused of mass extinction, estimated 50 million dead innocent people. Secretary-General Guterres of the United Nations since 2017, came after Ban Ki-moon, and before him? Who was corrupted the office of the highest rang, on our most valuable assets, that we have build after World War II?

End of the log,

The Bonka Brown Coffee,
The Annan Dark Roasted.

Per Dòminum nostrum

431 Flectámus Génua Deus, qui mirabiliter creasti hóminem, et mirabilus redemísti; da nobis, quæsumus, contra oblectaménta peccáti, mentis rátione persístere; ut mereàmur ad ætérna gáudia perveníre. Per Dòminum nostrum J.C. Filium tuum.

Bounty Decoded

The act of separating the pure from the impure part of any thing (1:22). [150] Luth. Lib. de Captivated Babylon. [151] Calv. Inst. L. 3. C. 19. Sect. 14.