Papen hat, indem er sich auf die Reichswehr als ultimaratio stützte, den Versuch gemacht, gegen 90 Prozent der Bevölkerung zu regieren. Schleicher, der den Einsatz der Reichswehr vermeiden möchte, weiß, dass er das Verhältnis nicht einfach umzukehren vermag
Die Morgenausgaben der Zeitungen widmen sich ausführlich der Rundfunkansprache des Kanzlers. Erst mal machen lassen, heißt es bei vielen Leitartiklern. Viele Zeitungen drucken den Text der Ansprache auf den hinteren Seiten komplett oder in Auszügen ab. Die schärfste Kritik äußern wie erwartet die kommunistischen und die nationalsozialistischen Blätter, auch die SPD-Presse gibt sich skeptisch. Ein »sozialer General« - wie soll das gehen? Hitler kehrt nach Berlin zurück. Er lässt die Fraktion der NSDAP aus dem preußischen Landtag versammelt in Görings protziger Wohnung
antreten.
162 Abgeordnete sitzen für die Partei im Parlament. Der Stil des
Reichstagspräsidenten ist rasch beschrieben: Göring gefällt alles, was teuer und wuchtig ist. Sein Arbeitszimmer ist ganz in Rot gehalten, was den einen oder anderen Besucher schon zum Gedanken verführte, dass Kaiser Nero im alten Rom auch nicht viel anders logiert haben dürfte. Heute geht es um die große Linie. Wie soll die NSDAP mit dem Reichskanzler umgehen? Hitler stellt unmissverständlich klar: Abweichler werden in der Partei nicht mehr geduldet. Das Debakel um Strasser war unangenehm genug. Schleichers Einsicht, sich nur für kurze Zeit als politischer Sachverwalter zu sehen, scheine immerhin erkennen zu lassen, dass er aus dem Schicksal der Vorgänger seiner Regierung Lehren gezogen habe, sagt Hitler. Die Rede gestern sei schwach und lahm gewesen. Sie zeige: Wenn Herr von Schleicher auf der offenen Bühne steht, ist von dem Elan, den er hinter der Bühne entfaltet hat,
nicht mehr viel übrig. »Unser Wollen und unser Weg ist klar«, sagt Hitler zu den Abgeordneten. »Niemals werden wir uns von unserem Ziel abbringen lassen. Wir haben die deutsche Jugend, wir haben den größeren Mut, den stärkeren Willen und die größere Zähigkeit. Was kann uns da zum Siege noch fehlen?«
Wenn Schleichers Strategie glücken soll, braucht er die Unterstützungder »Eisernen Front«
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und der SPD. In Berlin treffen sich deren führende Vertreter. Wie mit Schleicher umgehen? Der Kanzler macht Avancen, das ist keine Frage. Die Sozialdemokraten aber wollen die Regierung bekämpfen.
Der SPD-Parteivorsitzende Otto Wels dringt darauf, dass man sich die »Quälereien der Debatte« erspare. In der »Eisernen Front« sollten keine
Lücken sichtbar werden.
Doch die Gewerkschaften wollen weiterhin mit Schleicher kooperieren. Man trennt sich im Streit.Die Krise in der NSDAP schwelt weiter. In Hamburg soll der Fraktions führer in der Bürgerschaft abgelöst werden - er hat offen für Strasser geworben. Morgen wird Hitler in der Hansestadt zur »Führerbesprechung erwartet.
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In Hessen hat derweil Gauleiter Karl Lenz seinen Posten niedergelegt, dazu noch sein Landtagsmandat und den Fraktionssitz. Freiwillig war das nicht. Auch er ist ein Strasser-Mann - auf Befehl Hitlers musste er ebenfalls einen Erholungsurlaub antreten. In diesen Tagen fallen viele hochrangige Nationalsozialisten von heute auf morgen erkrankt aus.
Und nun gibt es neuen Ärger in der Causa Strasser. Dessen Bruder Otto hat einen Artikel veröffentlicht, in dem er »Angst und Feigheit in der NSDAP« beklagt. Adolf Hitler ist empört. Als ein alter Gefolgs-
mann von Gregor Strasser zu ihm kommt, um für den früheren zweiten Mann der Bewegung ein gutes Wort einzulegen, kanzelt Hitler den Besucher ab.
Goebbels aber jubiliert und spottet über die »Wut des Erfolglosen«. Nun dürfte Gregor Strasser bei den meisten in der Partei unten durch sein.
Die Rede des neuen Kanzlers ist ein Schock für viele Industrielle. Der Direktor des Hansa-Bundes für Gewerbe, Handel und Industrie, Ernst Mosich, schreibt an die Reichskanzlei. »Sehr breite Schichten des ge-werblichen Unternehmertums« hätten die »gestrige Rundfunkrede des Herrn Reichskanzlers von Schleicher keineswegs mit der Resonanz aufgenommen«, die »man heute in der bürgerlichen Presse feststellen kann«.
Der Regierungschef solle »darüber nicht im Unklaren gelassen werden, welche starken psychologischen Hemmungen der Wiederaufbauarbeit und der Wiederaufbauwilligkeit der Wirtschaft entgegen stehe« Schleichers Passagen über Kapitalismus und Sozialismus haben den
Herren an den Schalthebeln der Unternehmen alles andere als gefallen. Unter Papen hätte es solche wirren Ideen nicht gegeben. Wenn Schleicher es ernst meint mit seiner sozialen Politik, mit sei- ner Annäherung an die Arbeiter und ihre politischen Vertreter, dann muss er sich über solche Worte freuen.
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Auch Abraham Plotkin ist an diesem Abend unterwegs. Wann immer er in diesen Tagen Deutschen gegenüber erwähnt hat, er wundere sich, warum Kommunisten und Nationalsozialisten kürzlich beim Streik der Verkehrsbetriebe gemeinsame Sache gemacht haben, wurde er ausgelacht. Das ist doch klar, sagten seine Gesprächspartner. Vereint gegen die Sozialdemokratie!
Plotkin beschließt, sich die Nazis einmal aus der Nähe anzusehen. Sagenhafte Dinge erzählt man sich über ihre Versammlungen. Früh marschiert er los, weil er gehört hat, dass der Andrang gewaltig ist,
wenn dieser charismatische Politiker redet: Joseph Goebbels.
Die Veranstaltung soll um acht Uhr beginnen, die Türen öffnen um sechs, Plotkin ist um sieben Uhr da. Als er aus dem Bus aussteigt, sieht er Dutzende Polizisten und Dutzende Nazis in schwarzen Hosen. Er
ärgert sich, kommt er zu spät? Aber ohne Probleme bekommt er noch eine Eintrittskarte für eine Mark.
Der Sportpalast. Die Stätte großer Kämpfe, großer Reden, großen Brimboriums. Eröffnet worden ist die Arena im November 1910, in Schöneberg, Potsdamer Straße 172, zunächst als überdachte Eislauf-
arena. Hier hat schon der Boxer Max Schmeling gekämpft, hier steigen regelmäßig Bockbierfeste, und vor allem ist der Sportpalast die Bühne großer Parteikundgebungen.
Doch als Plotkin nun die pompöse Halle betritt, ist er erst mal enttäuscht. Das Gebäude ist oval, geformt wie ein O. Der hintere Teil ist mit einem Vorhang abgetrennt, vor dem sich die Bühne für das Orchester und die Redner befindet. Er schätzt, dass der Saal 5000 Menschen fasst und die drei Balkone darüber noch einmal 10 000. Doch jetzt sind nicht mehr da als vielleicht 2000 Leute. Die jungen Nazis,
so empfindet es Plotkin, sehen trotz ihrer Uniformen entmutigt und enttäuscht aus. Kurz vor acht Uhr sind es vielleicht 7000 Menschen, davon sicher 1000 in Uniform.
Punkt acht legt das Orchester, 200 Mann stark, martialisch los. Doch der Applaus fällt schwach aus. Liegt es an den internen Streitigkeiten der NSDAP? Oder daran, dass politische Kundgebungen verboten sind? Hier läuft doch etwas falsch, denkt Plotkin. Alles wirkt so see-
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lenlos. Es fühlt sich an, als hätte ihre verbindende Idee die Flucht er-
griffen.
Die Musiker spielen eine halbe Stunde, Plotkin schlendert herum, studiert das Publikum. Gut die Hälfte der Zuhörer sind Frauen mittleren Alters. Um halb neun Uhr recken sich die Hälse, ein Spielmannszug marschiert auf, dahinter zwei Kolonnen Uniformierter mit gewaltiger Hakenkreuzflagge. Nun reißen die Menschen in der Halle die Arme zum Hitlergruß hoch, viele indes ohne Elan. Plotkin schießt
durch den Kopf: Das Erheben der Hand über den Kopf ähnelt, wenn es nachlässig ausgeführt wird, sehr der Art, wie alte Damen winken. Als die Trommler die Bühne erreichen, spielt das Orchester auf, dass
jeder Dachsparren in dem riesigen Gebäude erzittert«, notiert Plotkin später.» Der einzige Moment am ganzen Abend, in dem das Publikum komplett davongetragen wird.«
Wo aber ist die Ekstase? Wo das Verschmelzen der Masse? So sollen sie doch ablaufen, die berüchtigten Veranstaltungen der National sozialisten. Plotkin wundert sich. Stattdessen diese müde Inszenierung. Die NSDAP erinnert ihn an den rassistischen Ku-Klux-Klan aus seinem Heimatland, dessen Zuspruch zuletzt ebenfalls stark nachgelassen hat.
Der Spielmannszug stellt sich auf die Bühne, musiziert bis neun Uhr. Dann stiefeln Männer in schwarzer Uniform herbei. Heil-Rufe für die Herren der SS. Einer von ihnen tritt ans Mikrophon. Es gebe einen politischen Waffenstillstand, dem die Nationalsozialisten zugestimmt hätten. Und dieses Wort sei die wertvollste Sache in Deutschland.
Schwacher Jubel, die meisten im Saal schweigen. Bald werde Dr. Goebbels sprechen, aber über nichts Politisches. Eine Frau ruft: Das ist nicht richtig! Lauter Applaus. Und dafür zahlen die Zuhörer eine Reichsmark Eintritt?
Plotkin hat genug gesehen. Das war also die berühmte Bedrohungfür Deutschland und die Welt. Ein Boxkampf, denkt er, wäre viel auf regender gewesen.
Er verlässt den Sportpalast, noch bevor Joseph Goebbels die Bühne
betreten hat.
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Was ist wirklich los in der NSDAP? Reinhold Quaatz, der Reichstags abgeordnete der DNVP, besucht Staatssekretär Meissner. Eines ihrer klandestinen Gespräche. Ja, Strasser ist im Ausland, aber Meissner er- zählt, dass Schleicher immer noch mit einer Spaltung der Nationalso zialisten rechne. Der Reichspräsident und die Leute um ihn herum sahen diese Taktik allerdings mit einer gewissen »Reserve«. Hindenburg habe an Papen gehangen.
Wie beim Präsidenten denn so die Stimmung sei, was Schleicher angeht? Die sei kühl, sagt Meissner.
Am Abend hat Franz von Papen endlich mal wieder einen großen Auftritt. Der erzkonservative »Herrenklub hat zum Jahresessen geladenund der ehemalige Kanzler darf die Festansprache halten. 700 Gäste strömen in die Kroll-Oper ganz in der Nähe des Brandenburger Tores. Politiker, Industrielle, Militärs. Vor einem Jahr wurde hier das letzte Stück gespielt: »Die Hochzeit des Figaro« von Mozart. Eine Oper voller Intrigen, Täuschungen und Rache. Dann endete der Kulturbetriebwegen der hohen Kosten. Nun bietet Papen gute Unterhaltung. Er verteidigt seine sechsmonatige Regierung, lobt den gastgebenden Herrenklub und ein wenig auch die Nationalsozialisten - eine vorsichtige Annäherung? Papen findet indes auch freundliche Worte für Schleicher. Der hat ihn ja schließlich gestern in der Rundfunkansprache ebenso mit einem Kompliment bedacht. Sein Freund und Nachfolger im Kanzleramt, sagt Papen, habe ein klares Programm, dessen Klugheit sowie die Sachkenntnis und Energie der Mitarbeiter Schleichers verdienten volles Vertrauen.
Ist das ein vergiftetes Lob? Nur die Mitarbeiter haben Sachkenntnisse? Es lohnt vielleicht, aufmerksam hinzuhören.
Einer ist besonders aufmerksam: der Kölner Bankier Kurt Freiherr von Schröder. Nach dem Essen spricht er den Festredner an. Ob esnicht reizvoll wäre, sich einmal mit Adolf Hitler über die politische
Lage auszutauschen? Er könnte ein Gespräch vermitteln, bietet Schroder an.Warum nicht? Papen ist einverstanden.
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Schröder sympathisiert mit den Nationalsozialisten, auch wenn er kein Parteimitglied ist. Er gehört dem »Keppler-Kreis« an, einem elitären Zirkel Industrieller, der die NSDAP an die Macht bringen will.
Im November zählte er zu jenen Unternehmern, die in einem Brief an Hindenburg die Machtübernahme Hitlers forderten.
Während der Herrenklub feiert, kommt Hitler mit Getreuen zusammen, auch Joseph Goebbels ist dabei. Sein »Führer« erzählt von den guten alten Tagen der Bewegung. Aber auch damals habe es immer wieder einen Segestes gegeben, einen Verräter. Segestes, so will es die Legende, war der Germanen fürst, der, im Dienste Roms stehend, Hermann den Cherusker verriet.
Der Segestes des Nationalsozialismus, Gregor Strasser, hat immer noch Bewunderer in der NSDAP. Das wissen Hitler und Goebbels, auch wenn sie nach außen hin anderes behaupten. Beide beschließen,
die Parteigenossen mit allen Mitteln zu bearbeiten. Jeden Sonnabendund jeden Sonntag wollen sie in den nächsten Wochen in einer anderen Region vor Gauvertretern sprechen. Wenn sie dieses Feuer nicht
austreten, kann es die Partei verzehren.
Erwin Planck, Schleichers Staatssekretär im Kanzleramt, erhält eindringliche Warnung. Papen habe sich zuletzt nicht nur im Herrenklub als Feind Schleichers erwiesen, erzählt ein Informant. Und seine enge
Beziehung zu Hindenburg stelle für den neuen Kanzler eine echte Gefahr dar.Doch Planck macht sich über Franz von Papen keine Sorgen: »Lassen Sie ihn doch reden, völlig bedeutungslos«, entgegnet er. »Den nimmt kein Mensch mehr ernst. Herr von Papen ist ein Wichtigtuer. Diese Rede ist der Schwanengesang eines schlechten Verlierers.«
Der » Auslandsbund Deutscher Frauen« lädt zum Ball. Natürlich hatsich Bella Fromm angemeldet, ein Pflichttermin. Die Reporterin widert an, dass diese Organisation radikaler wird, ein Lautsprecher für
extreme Propaganda: Begriffe wie »Versailler Schandvertrag« oder
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»Lebensraum« sind in ihren Reden immer öfter zu hören. Vokabular, das auch die Nationalsozialisten schätzen. Aber zahlreiche Diplomaten gehören zu den Gästen, und daher muss auch Bella Fromm da-
bei sein. Kronprinz Wilhelm und seine Frau Cecilie sind die Stars des Abends. Unangenehm fällt der grobschlächtige Graf Wolf-Heinrich von Helldorf auf, der in SA-Uniform erscheint. Er kommandiert die Sturmabteilung in Berlin, ist Joseph Goebbels ergeben, ein Verbindungsmann zu Schleicher. Warum er keinen Frack trage?, will ein Gast von Helldorf wissen. Weil die Uniform seine Überzeugung zum Ausdruck bringe. »Wenn die Hohenzollern etwas dagegen haben«, fährt der Graf fort, »mögen sie mich hinauswerfen lassen.«
Fromm findet es äußerst entmutigend, wie viele Freunde die Nationalsozialisten im alten Adel mittlerweile gewonnen haben. Sie streitet mit einem Grafen, der ernsthaft behauptet, Hitler wolle die Monarchie wiederherstellen. Und dann läuft ihr überdies Prinz August Wilhelm über den Weg, auf dem Weg in den Speisesaal. »Auwi«, der vierte Sohn des früheren deutschen Kaisers Wilhelm II., in seiner braunen Uniform der SA.
Jetzt ist Fromm wirklich gereizt. Dort biegt auch noch Magda Goebbels um die Ecke, die ehemalige Frau Günther Quandts. Mit achtzehn Jahren lernte sie den Industriellen kennen, sie heirateten, Magda ging fremd, es folgte die Scheidung - und bald lernte sie Joseph Goebbels kennen. Vor nicht einmal vier Monaten hat das Paar sein erstes gemeinsames Kind bekommen, eine Tochter. Heute Abend ist Magda Goebbels wirklich schön, das muss Bella Fromm zugeben. »Keine Juwelen außer einer Kette echter Perlen um den Hals«, wird sie notieren. » Ihr goldenes Haar ist nicht gefärbt, es ist echt. Ihre großen, schillernden Augen, die die Farbe von Stahlgrau bis Dunkelheit ändern können, strahlen
eisige Entschlossenheit und ungewöhnlichen Ehrgeiz aus.
Der kultivierte André François-Poncet tritt an Bella Fromm heran.»Wie gefällt sie Ihnen?«, fragt er. Frankreichs Botschafter wartet keine Antwort ab. »Ich habe nie so eiskalte Augen bei einer Frau gesehen.«
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