MITTWOCH, 14. DEZEMBER
Hitlers sinkender Stern
Vossische Zeitung
Zwei Kabinette gestürzt!
In Frankreich und in Belgien
Der Angriff
Es gibt keinen Burgfrieden mit den Feinden des Volkes! »Rote Fahne» nach 50. Verbot wieder auf Kampfposten Die Rote Fahne Die Morgenzeitungen verkünden, dass Reichskanzler Schleicher am
morgigen Donnerstag seine Antrittsrede im Radio halten wird: Umsieben Uhr abends strahlen die Rundfunksender die Ansprache im ganzen Reich aus. Die Rede wird eine ganze Stunde dauern. Eine gekürzte englische Fassung soll es in den Vereinigten Staaten zu hören geben.
Ministerbesprechung um elf Uhr, natürlich ergreift Schleicher als Erster das Wort. Zunächst eine Ansage an alle: keine Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften für die Weihnachts- und Neujahrsausgaben schreiben! Das habe in den vergangenen Jahren immer nur Probleme gemacht. Nur keine Angriffsfläche bieten. Alles ist momentan schon kompliziert genug. Und keine Indiskretionen! Frühere Regierungen hätten sehr darunter gelitten.
Das Problem ist: Schleicher traut längst nicht allen Ministern in seinem Kabinett. So manchen von Papen berufenen Baron hätte er germ ausgetauscht, aber Hindenburg hat dabei nicht mitgespielt. Schleicher kann nur mit den Herren regieren, die der Alte akzeptiert.
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Das drängendste Thema ist die Winterhilfe. Die Sozialdemokraten fordern, dass alle Hilfsbedürftigen von Dezember bis April zwei Kilogramm Brot und ein halbes Kilogramm Fleisch pro Woche sowie
20 Zentner Kohlen auf Staatskosten erhalten sollen. 400 Millionen Reichsmark würde das kosten. Als Opposition kann man so etwas leicht verlangen. Aber für Reichsfinanzminister Schwerin von Krosigk steht fest: Das ist selbstverständlich mit den Reichsfinanzen unvereinbar. Der Minister hat bei den Beratungen der Parlamentarier angekündigt, dass die Regierung nur im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten helfen werde. Sein Vorschlag: die bereits bestehende Verbilligungsaktion für Kohle und Fleisch zu erweitern. Der Mehraufwand für die Winterhilfe betrüge dann gut 20 Millionen Reichsmark.
Und was ist mit Brot, was mit Milch? Der Innenminister stellt fest, wie kompliziert die Verteilung für die Beamten sei. Die Minister geraten in Streit.
Schleicher bricht die Debatte schließlich ab. Die zuständigen Minister sollen im kleinen Kreis klären, was bei Brot und Milch möglich ist.Dann bittet er das Kabinett zu prüfen, wie die Not der Kleinrentner
gelindert werden könnte. Das sei ein Wunsch des Herrn Reichspräsidenten. Der Arbeitsminister schlägt sofort vor, dafür 1,8 Millionen Reichsmark bereitzustellen. Hindenburgs Wunsch ist für das Kabinett Befehl - immer wieder greift der Präsident auf diese Weise in die Tagespolitik ein. Schleicher
hat keine Wahl. Was Hindenburg will, muss er umsetzen.
In München zensiert die NSDAP eine ihrer eigenen Zeitschriften. Der Illustrierte Beobachter darf nicht erscheinen. Das Blatt hatte eine Bildergeschichte gedruckt: »Männer und Charaktere: Gregor Strasser«.
Vier Fotos zeigen Strasser am Rednerpult mit markigen Gesten, gestrecktem Zeigefinger, gerecktem Arm. Und auf einem Bild ist der Besuch des »Führers» bei Strasser in Oberstaufen verewigt, wo der Parteigenosse seinen schweren Skiunfall hatte, unter dessen Folgen er bis heute leidet.In dem Stück heißt es: »Wir kennen ihn alle, den Hünen im Braun-
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DER PLAN
hemd, diesen menschgewordenen Eichbaum in den Gewitterstürmen des politischen Kampfes, Gregor Strasser, dieser Urtyp des Bajuwaren, wuchtig an Gestalt, Charakter und Geist: einer der populärsten unter Hitlers Gefolgsmännern, demgegenüber selbst der gehässigste Gegner seinen Respekt nicht zu unterdrücken vermag.» Das nennt man missglücktes Timing.
Die deutsche Industrie trauert. Sie trauert um die Regierung Papen. Der Präsident des Reichsverbands der Deutschen Industrie, Krupp von Bohlen und Halbach, sagt auf der Hauptausschusssitzung des Verbandes: »Gegenüber der Regierung Schleicher sprechen wir den Wunsch aus, dass sie sorgfältig darauf bedacht sein möge, die Grundlinien des Programms Papen zu wahren, Abänderungswünsche dieser oder jener Gruppe mit aller Vorsicht zu behandeln und vor allen Dingen gefährliche kredit- und währungspolitische Experimente zu verhindern.» Und Krupp, einer der bekanntesten Unternehmer der Republik, legnach: »In diesem Zusammenhang liegt es mir am Herzen auszusprechen, dass Herr von Papen für die Leistungen während seiner Amtszeitden größten Dank verdient - nicht nur der Industrie im engeren Sinne des Wortes, sondern auch der weitesten Volkskreise.»
Die Botschaft ist nicht fehlzudeuten: Schleicher möge Papens industriefreundliche Politik fortführen. Von der glaubt indes Schleicher, sie habe Deutschland an den Rand des Bürgerkriegs getrieben.
Der Reichspräsident gibt eine Gesellschaft zu Ehren von Ernst Lubitsch. Otto Meissner fungiert als Gastgeber, natürlich ist Bella Frommdabei. Sie schätzt Lubitsch sehr, diesen großartigen Regisseur. Vierzig Jahre ist er alt, hat längst Hollywood erobert, ein Meister der Salonkomödie. Allein in diesem Jahr sind Ärger im Paradies, Eine Stunde mit Dir und Wenn ich eine Million hätte in die Kinos gekommen. BellaFromm fragt Lubitsch auf ihre unverblümte Art, warum er nicht länger
in Deutschland leben wolle. »Das ist vorbei», antwortet er. »Ich gehe in die Vereinigten Staaten. Hier wird es für lange Zeit nichts Gutes mehr geben. In Hollywood scheint die Sonne alle Tage»
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Die Spionageabwehr hat zugeschlagen. Schleicher wird ein Telegramm vorgelegt, das seine Spione abgefangen haben. Die Abteilung Abwehr Nationalsozialisten, darunter auch Hermann Göring, immerhin die dem Wehrminister direkt untersteht, überwacht einige fahrende Reichstagspräsident. Natürlich wäre es ein handfester Skandal, wenn die Bespitzelung aufflöge. Aber sie fliegt nicht auf. Schleicher teilt sein Wissen nur ungern. Und allenfalls ein kleiner Kreis könnte erzählen, wen die Abwehr alles abhört. Selbst Heinrich Brüning hat in seiner Kanzlerschaft Seltsames erlebt und das Wehrministerium verdächtig Telefone, die knackten, Drähte, die aus einer Kaminmauer herausragten, Fremde, die sich an seinem Schreibtisch zu schaffen machten, Innenminister von Gayl, der nach Brünings Rücktritt von Papen berufen wurde, beauftragte gar einen Detektiv, um sich davor zu schön zen, ausspioniert zu werden. Überspannte Nerven, Paranoia vielleicht Oder
ein gesunder Realitätssinn?
Der vorliegende Bericht ist von der italienischen Botschaft an das Außenministerium in Rom abgeschickt worden. Das Thema: ein Treffen von Botschafter Vittorio Cerruti mit Göring am 9. Dezember, es ging um die Kontrolle Preußens, um die Kontrolle der preußischen
Polizei.
Schleicher zeichnet nach der Lektüre gegen. Er dürfte mit seinen Leuten vom Geheimdienst zufrieden sein. War je ein Militär in der Politik besser vernetzt, besser informiert, geschickter darin, die Fäden zu ziehen? Einmal hat Schleicher auf den Bericht eines Mitarbeiters im Reichswehrministerium gekritzelt: »Schade, dass ich keine Veranlagung zum Größenwahn habe.» Im vergangenen Jahr hat die Abwehr, noch von Oberst Bredow geleitet, einen großen Fang gemacht. Sie erfuhr damals den Inhalt eines Telegramms, das Göring an Cerrutis Vorgänger geschickt hatte - und in dem Pläne der Nationalsozialisten für einen Putsch mitgeteilt wurden.
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Bis Morgen als Ich dich alle wieder schreibe,
Gruss Gott,
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